Was willst du? – Oder wie Doro endlich zu ihrem eigenen Pferd kam

Pferde sind meine Leidenschaft. Es muss mir irgendwie angeboren sein. Aus meiner eigenen Familie reitet ansonsten niemand, lediglich meine jüngere Schwester konnte ich davon begeistern. Pferde waren auch meine ersten Motive, die ich anfing unbeholfen zu kritzeln, kaum, dass ich in der Lage war, einen Stift zu halten. Seit dem Alter von neun Jahren erhielt ich einmal wöchentlich Reitunterricht, seitdem hat es mich in diesen 20 Jahren (mit phasenweisen Unterbrechungen) nie mehr losgelassen. Das typische Mädchen, wirst du jetzt vielleicht denken. Mag durchaus sein. Aber im Gegensatz zu vielen Mädels aus meinem Jahrgang hat es mich nie mehr losgelassen und wird es wohl auch nie mehr.

Warum lieben Mädchen Pferde? Warum brauche ich Pferde? Vielleicht hat es mit der wohl immerwährenden Rolle der Frau zu tun, auch wenn Feministinnen verzweifelt versuchen, daran etwas zu ändern. Meine Eltern haben sich die größte Mühe gegeben, uns zwei Mädels und drei Jungs nach Möglichkeit gleich zu behandeln, und doch ist es einfach so, und so haben auch wir es erlebt, dass der Beschützerinstinkt, wenn es um die weiblichen Nachkommen geht, einfach deutlich größer ist, was biologisch gesehen auch absolut Sinn macht. Hinzu kommt, dass ich in einem Elternhaus aufgewachsen bin, in dem im Allgemeinen sehr viel Kontrollzwang herrschte, in dem ich stark bevormundet wurde und in dem mir auch psychische und physische Gewalt zu Teil wurde. Heute verstehe ich, wovon meine Eltern getrieben wurden: Angst.

Doch mittlerweile verstehe ich, dass Angst, auch wenn sie mir mit allen Mitteln über all die Jahre aufgedrückt wurde, nie zu meiner wirklichen Natur gehört hat. Wenn ich auf einem Pferd sitze, bin ich frei. Ich bin stark, schnell, mutig, unaufhaltsam. Schön, groß, stolz und edel. Hier habe ich die volle Kontrolle über eine eigentlich unbändige Urgewalt. Hier kann ich fallen und sofort wieder aufsteigen. Und meine Eltern haben von diesem Gebiet nicht die geringste Ahnung und lassen mich schalten und walten, wie ich es will. Und bei Tieren kann ich sein, wer ich bin. Keine Fragen, keine Verurteilung, keine unrealistischen Ansprüche. Das einzige was zählt, ist wer ich hier und jetzt bin und was ich hier und jetzt empfinde und geben kann. Außerdem: Einfach mal raus aus allem kommen, raus in die Natur! Nur hier habe ich wirklich einen klaren Kopf, kann ich frei atmen und denken. Dafür bin ich geboren. Ich liebe es, zu erkunden und den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten.

Zurückblickend sehe ich, wie ich mich in den Zeiten ohne Reitmöglichkeit von der Natur isoliert gefühlt habe. Denn ohne Pferd war ich ein Nichts. Zumindest fühlte ich mich so. Ich hatte kaum den Mut, kaum die Energie, mich selbstständig auf den Weg zu machen, fühlte mich kaum fähig, diese eigenen Füße zu benutzen um mich durch die Vorstadt und zur Freiheit zu tragen. Es gab für mich kaum einen Sinn, vor die Tür zu gehen, außer, um meine Pflichten zu erledigen. Nur die Pferde gaben mir all dies. Hiervon konnten mich auch die phasenweise sehr quälende Neurodermitis und die Heu- und Tierhaarallergien nicht abhalten. Zurückblickend bin ich meinen Eltern unendlich dankbar dafür, dass sie mir all dies ermöglichten, auch wenn sie selbst meine Begeisterung nicht so nachvollziehen konnten. Ich wäre ohne die Pferde heute nicht derselbe Mensch.

Klein-Dorothee und die Pferde:

Seit der Mittelstufe hatte ich zwei Reitbeteiligungen und erlebte auch zusammen mit meiner besten Freundin Kerstin und ihren beiden Pflegepferden so manches Abenteuer. Doch all diese wundervollen Begleiter wurden uns durch ihre Besitzer auf sehr schmerzvolle Weise nach ein paar Jahren, in denen man viel mit Leib und Herz investiert hatte, genommen. Die Beendigung meiner zweiten Reitbeteiligung mündete in eine sich einschleichende Depression. Hier kam natürlich noch viel anderes zusammen und ich habe damit mehr oder weniger seit meiner frühen Teenagerzeit zu kämpfen gehabt. Ich fiel in ein so tiefes Loch wie es selbst für mich nicht normal war. Ich ging nicht mehr vor die Tür, erhob mich eigentlich auch gar nicht mehr von der Couch und wollte nach den Semesterferien nicht mehr zurück zu meiner Kunstakademie kehren. Vielmehr setzte ich mich in der Zeit viel mit mir selbst und meiner Vergangenheit auseinander und bemühte mich um die Aspergersyndromdiagnose (was ich auch nicht geschafft hätte, wenn mein Mann mich nicht überall hingefahren hätte, denn ich war kaum noch in der Lage, selbst Auto zu fahren). Er hatte mich zuvor schon immer wieder versucht dazu zu animieren, mir wieder ein Pflegepferd zu suchen. Ich war ein Jahr nach meinem Abi, und der Überwindung des BurnOuts, der daraufhin folgte, allein an den Rand des Ruhrgebiets für mein Illustrationsstudium gezogen. Ich war umgeben von Pferdehöfen, doch ich hatte mir geschworen, dass ich mir niemals mehr ein Pferd mit jemandem teilen würde, zu schmerzvoll hatte so etwas jedes Mal geendet.

Nach harten Jahren der Fernbeziehung haben wir uns dann endlich eine gemeinsame Wohnung nehmen können. Es war wie ein Geschenk Gottes, es war so perfekt auf mich abgestimmt. Auf einem ehemaligen Schlachthof, eine zur Dachwohnung ausgebaute Scheune. Quasi ein Haus für uns zum sehr günstigen Preis, wo niemand über mir wohnt, denn das Getrappel kann ich nicht ertragen und hat mich in meinem hellhörigen Erdgeschosszimmer daheim über viele Jahre entsetzlich leiden lassen (nur wer weiß, wie es ist, Geräusche als körperliche Empfindung zu erleben, weiß, wovon ich rede). Die Vermieter wohnen mit auf dem Hof und haben zwei Hunde, zwei Katzen, Meerschweinchen, Hühner und hießen uns mit unseren eigenen Tieren mehr als willkommen, was absolut nicht selbstverständlich ist. Und ein Garten! Seit unseren beiden Umzügen in meiner frühen Kindheit und dem Tod meiner Oma musste ich ohne auskommen, was mich ebenso krank gemacht hat. Wie in einem Bunker eingesperrt habe ich mich in meinem Elternhaus gefühlt. Aber das Großartigste: Zwei Pferde standen ebenfalls direkt am Haus. Die Weide grenzt an mein Arbeitszimmerfenster. Von so etwas hatte ich immer geträumt… Die Pferde waren super lieb, Kairo und Snoopy. Snoopy war ein ehemaliges S-Springpferd, das unsere Vermieter von einem Verwandten als Beistell- und Freizeitpferd zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Kairo war damals sieben, ein halber Araber. Es stellte sich schnell heraus, dass unsere Vermieter kaum Erfahrung mit Pferden hatten, sie hatten sich diesen Hof ein Jahr zuvor gekauft mit den Stallungen und allem Drum und Dran und dann wurde auch schnell der Wunsch von der Tochter und der Frau laut, nach eigenen Pferden. In Kairo hatten sie sich sofort verliebt, als sie ihn gesehen hatten. Kein Wunder, er ist bildschön und einfach lieb, wenn auch sehr dominant. Mein Interesse war sofort geweckt, auch wenn in mir direkt die Angstsperre anging. Nie wieder wollte ich mich in so eine Situation begeben, mich verletzlich machen… Doch erst, dass ich anfing, Kairo zu bereiten und mit ihm die schöne Umgebung zu erkunden, konnte mich aus meinem tiefen Loch holen. Anfangs fand ich ihn furchtbar. Unfassbar sensibel, ängstlich, schreckhaft, unberechenbar und geladen. Doch auch der Wille, es richtig zu machen, absolute Ehrlichkeit, Gutwilligkeit und Treue fand ich in ihm. Ich konnte mich stark mit ihm identifizieren. Er suchte doch auch nur jemanden, der ihm zeigte, dass die Welt doch nicht so unkontrollierbar und furchtbar ist und ihm ein wenig Anleitung gab. Ich hatte eine Aufgabe gefunden. Ich hatte meine Verbindung zum Leben und zur Natur wieder gefunden. In den Jahren ohne Pferd hatte ich immer das Gefühl gehabt, dass etwas in mir gestorben sei, dass irgendetwas in mir weggesperrt und der Schlüssel fortgeworfen sei. Ich fühlte mich wie ein Querschnittsgelähmter, dem der Rollstuhl weggenommen worden war. Oder sogar, als wären mir meine eigenen Beine geraubt worden. Es schien, als würde ich den Wechsel der Jahreszeiten gar nicht mehr so richtig miterleben und alles einfach an mir vorüberziehen.

Ich erlebte sechs schöne Jahre mit Kairo und Snoopy, brachte meinem Mann das Reiten ein wenig bei und machte aus Kairo, der schon von einem Bereiter als unreitbar erklärt worden war, ein anständiges und verlässliches Freizeitpferd, dem ich mich sogar ohne Sattel anvertrauen konnte.

Dann kam die Phase, in der ich so krank wurde. Mein Leben war ziemlich gut, aber mein Körper ließ mich im Stich. Anfangs verband ich mir noch die zahllosen offenen und nässenden Stellen und zog mir Baumwollhandschuhe unter die Reithandschuhe. Ich musste einfach raus. Nur in der Natur bekomme ich den Kopf richtig frei, kann abschalten, den Stress loslassen. Ein Ritt durch die Stille der Natur ist wie eine Meditation. Reiten war auch schon immer ein Sport gewesen, den ich mit meinem nicht allzu belastbaren Körper hatte ausführen können. Doch an meinem tiefsten Punkt konnte ich meine Hände kaum noch benutzen, weswegen reiten nicht mehr möglich war, was sicherlich mit zur Abwärtsspirale beigetragen hatte. 2015 war das Jahr, in dem ich endlich verstand, wie mein Körper funktionierte und alles akribisch austüftelte und studierte und mich ganz meiner Heilung widmete. Ich erlangte die Kontrolle über einen weiteren Bereich in meinem Leben, sicherlich mit den wichtigsten, meine körperliche Gesundheit. Allerdings bedeutete das harte Arbeit. Ich musste viel Zeit mit Ausruhen, mich Belesen, Kochen und Einkaufen verbringen und alleine dafür ackern, diesen Körper wieder auf Vordermann zu bringen. Andere Bereiche, Uni, Freunde, Familie und auch die Tiere mussten zurückstecken.

Als ich dann gegen Ende 2015 dies soweit ganz gut im Griff hatte und mir schon der Gedanke kam, dass gerade einfach alles zu perfekt sei, kam der nächste Schlag: Unsere Vermieter offenbarten, dass es ihnen mit den Pferden zu viel wurde. Die Tochter studierte und hatte keine Zeit mehr, und bei meinen Hilfsangeboten bei der Stallarbeit hatten sie immer freundlich abgewunken (ich habe trotzdem angepackt, wie es meine Kräfte erlaubten, hat sogar ganz gut getan). Es sind leider auch Leute von dem Schlag, die keine Hilfe annehmen können und alles schlucken, bis es zu viel wird. Man hätte sicher eine Regelung finden können. Ich sagte zwar noch halbherzig, dass ich Kairo ja sofort nehmen würde, ließ aber auch durchscheinen, dass ich da nicht wirklich dran glaubte. Klar, ein eigenes Pferd war immer einer dieser „eines Tages“ Träume gewesen. Aber so wirklich sah ich mich noch nicht als eine Person, die ein eigenes Pferd haben könnte. Ich malte es mir so aus, dass ich dann einen guten Job haben müsste, am besten ein eigenes Haus mit Stall, und und und… wer kennt das nicht. Ich hatte mich eigentlich recht bequem in der Opferrolle eingerichtet, von dem Mädchen, deren Eltern nie das Geld für ein eigenes Pferd hatten, während viele meiner Freundinnen den Wunsch schon früh erfüllt bekommen hatten. Auch Kerstin hatte sich den Wunsch inzwischen längst erfüllt, aber ich war, wenn ich ehrlich bin, sehr zufrieden da, wo ich war: Kostenlos reiten, ungebunden, keine wirkliche Verantwortung. Aber auch keine Rechte… Alles, was so selbstverständlich gewesen und sicher geschienen hatte, zerbröckelte vor meinen Augen. Als Interessenten da waren zum Probereiten, beobachtete ich alles nur hilflos von meinem Fenster aus, während ich mir die Augen ausweinte. Aber es war nicht mein Pferd. Ich hatte keine Rechte und sagte mir auch, dass ich mich einfach damit abfinden müsse. Als mein Mann abends von der Arbeit kam, durchschaute er mit einem Blick die Situation und begriff, was die Bedeutung dessen wäre, wenn es wirklich so weit käme und ging sofort zu unseren Vermietern um zu sagen, dass wir Kairo kaufen würden.

Ich selbst war da etwas anders eingestellt. Mein Kopf kam mir wieder in den Weg, meine Vernunft. Wir sind Studenten. Wir haben kein Geld und keine Zeit. Es wäre jetzt unangemessen. Und ich merkte, dass sich etwas in mir ganz heftig sträubte, meine Unabhängigkeit und Freiheit aufzugeben. Ich wusste ja noch gar nicht, was ich mal mit meinem Leben vorhatte. Ich wollte noch ein wenig die Welt bereisen, ehe ich mich dann irgendwo für immer niederließ und mir mein perfektes Zuhause erschuf. Ich hatte konkrete Vorstellungen von meinem Leben und niemand sollte mir dazwischenfunken. Und irgendwie traute ich mir diese Verantwortung auch nicht zu. Natürlich sprach ich auch nochmal mit meinen Vermietern. Kairo verlieren- nein, keine Option. So ein Pferd würde ich nie wieder finden, so eine Beziehung nie wieder zu einem aufbauen. Aber vielleicht ließ ich doch zu sehr durchblicken, dass ich nicht vollends hinter der Idee stand und gar nicht wirklich wusste, was ich wirklich wollte. Am liebsten hätte ich gehabt, dass alles so bliebe, wie es war. Kairo hätte auch woanders untergebracht werden müssen, was die Sache zusätzlich kompliziert machte.

Sie gaben den anderen, den fremden Leuten, den Zuschlag. Am 2. Januar sollten die Pferde weggebracht werden. Snoopy zurück zum eigentlichen Besitzer und Kairo ins eine Stunde entfernte Frankfurt. Silvester verbrachten wir nur zu zweit, uns war nicht danach, dieses neue Jahr zu feiern. Mit den Pferden zerfiel alles, was sich wie ein Zuhause angefühlt hatte. Und noch schlimmer, so hatten wir uns hier doch immer sehr wohlgefühlt, hatten unsere Vermieter als unsere Freunde angesehen. Und mir dann nicht den Zuschlag zu geben, wo ich Kairo doch größtenteils ausgebildet und erst wieder reitbar gemacht und mich immer als zuverlässig erwiesen hatte? Und ihn dann auch noch für einen derart beleidigend niedrigen Preis wegzugeben. Als am ersten Januar der Pferdetransporter auf den Hof gefahren wurde, fühlte ich mich, als würden sie dort unten die Guillotine für mich aufbauen. Am nächsten Tag musste ich auch noch helfen, die Pferde fortzubringen, meine Vermieter waren völlig überfordert damit und ich wollte sie in Sicherheit wissen. In Kairos neuem Stall regelte ich noch alles, damit er gut untergebracht war. Die Tatsache, dass ich von den Leuten dort als die eigentliche Ansprechpartnerin genutzt wurde, so als wäre ich die Besitzerin, einfach weil ich ihn kannte wie mein eigenes Pferd, ließ mich am Ende noch einmal begreifen, wie nah wir uns gestanden hatten. Ihn zurückzulassen zerriss mir das Herz.

Doch zu sagen, dass ich wieder in ein tiefes Loch fiel, würde es nicht treffen. Ich war eine andere geworden. Jemand, mit einer soliden Persönlichkeit. Ich hatte mir inzwischen ein Leben aufgebaut und hatte viel, auf das ich stolz sein konnte, im Gegensatz zu vor einigen Jahren, als ich quasi nichts hatte, was mir Halt gab. Eine wichtige Säule war mir weggerissen worden von meinem Fundament, aber inzwischen gab es genug weitere, die mich trugen. Seit ich die Kontrolle über meine Gesundheit übernommen habe, kann mich nicht mehr viel erschrecken, meine Einstellung zu dem, was uns widerfährt, ist eine völlig andere geworden. Ich hatte durchaus eine Phase sehr dunkler und bitterer Gedanken gegenüber meinen Vermietern. Ich wollte nur fort von hier, machte Pläne fortzuziehen von diesem wundervollen Ort, der mir zum ersten Mal seit langer Zeit wie ein Zuhause war. Als ich es nach Wochen zum ersten Mal schaffte, den leeren Stall zu betreten, weinte ich mir die Augen aus und brach fast zusammen vor innerem Schmerz. Noch wochenlang hoffte ich darauf, dass dieses junge, unreife Ding von Kairos anspruchsvollem und temperamentvollem Wesen überfordert wäre. Ich hatte ihr meine Nummer gegeben, nur für den Fall. Aber ich begriff auch schnell, dass ich weitermachen musste mit meinem Leben. Ich gab meiner Professorin endlich die Zusage für meine Masterarbeit auf den Azoren, wovor ich mich noch etwas gescheut hatte. Ich meldete mich für ein einmonatiges Vogelberingungspraktikum an. Einfach raus, weitermachen. Ich nahm zum ersten Mal richtigen Kontakt zu den anderen Reitern in unserem Dorf auf, vor allem zu Christa, zwei Häuser weiter, deren Mann Reiter war, aber letztes Jahr verstorben war. Ihre beiden Pferde standen auf der Nachbarkoppel zu „unseren“. Ich schloss ein paar tolle neue Freundschaften. Unglaublich, wie nah man doch zu so wundervollen Menschen leben kann und trotzdem traut man sich nicht, diese Grenzen zu überwinden! Doch was war mir all die Jahre entgangen! Ich merkte, dass ich hier wirklich hingehörte. Leider starb kurz darauf die alte Stute von Christa und die Tatsache, von meinem Fenster aus jetzt nur noch ein statt vier Pferde sehen zu können, erschien mir wie ein düsteres Omen, dass unsere Zeit hier nun wirklich vorbei sei.

Ich begann zu joggen. Im kalten Januar! Irgendeinen Sport musste ich ja machen, ich konnte mich nicht wieder so versauern lassen. Ich hasste Laufen, konnte mich nie dazu überwinden (soll auch typisch für Depression sein, wobei aber gerade das als sehr heilsam gilt, und ich verstehe warum), und wenn, hatte ich immer Konditionsprobleme wegen meinem Asthma gehabt und schaffte es auch einfach energiemäßig nicht, weil ich mich immer unterschwellig krank und erschöpft gefühlt hatte. Doch jetzt konnte ich erstaunt erleben, wie sehr mein Körper doch geheilt war, wozu ich imstande war. Es war, als wäre das der nächste Schritt, meinen Körper zurückzuerobern und wieder voll und ganz für mich zu beanspruchen und einfach raus aus der Opferrolle zu kommen. Ein weiterer Schritt dahin, meine Autonomie zurückzuerlangen. Ich merkte, wie es meine Heilung beschleunigte und mich verjüngte. Sich einfach mal richtig auspowern, bis zur Erschöpfung, bis der Schweiß in Strömen läuft.

Und ich beschloss eines Abends, meinen Vermietern zu vergeben, und wieder auf sie zuzugehen. Dieses Kapitel abzuschließen. Sie haben ihre Gründe gehabt, zu tun, was sie getan haben.

Klar, der Schmerz war noch da. Mitte Februar ging ich zum ersten Mal wieder zu einer Pferdeweide. Ein paar hübsche Braune, so wie Kairo und Snoopy. Einer gefiel mir besonders gut. So könnte ich mir mein eigenes Pferd vorstellen. Und ich begriff; ich bin ein Pferdemensch. Ich bejahte es vor mir selbst. Ja, ich bin ein Pferdemensch. Ja, ich will ein eigenes Pferd, von ganzem Herzen, und ja, ich wäre bereit, alles was nötig wäre dafür zu tun und aufzugeben und es würde mich glücklich machen. Und wenn so viele Menschen es schafften, warum dann nicht auch ich? In Trauer darüber, dass ich so lange gebraucht hatte, um mich zu dieser Erkenntnis durchzuringen, und dass sie mir jetzt sowieso nichts mehr nützte und einfach, weil Kairo mir so sehr fehlte, setzte ich mich aus tiefster Seele alles herausweinend zu den Pferden ins Heu und sah ihnen stundenlang beim Fressen zu.

Ein paar Tage später packte ich meine gesamten Reitsachen zusammen und verstaute sie auf dem Dachboden. Ich hatte meinen Frieden damit gefunden, dass dieses Kapitel jetzt erst einmal abgeschlossen war und wollte den Eingangsbereich unserer Wohnung ein bisschen einladender gestalten. Einen Tag später klärte ich an der Uni alles ab für meinen zweimonatigen Azorenaufenthalt. Das Bahnticket für die vier Wochen Ostsee hatte ich vor ein paar Tagen gebucht, jetzt nur noch zu Abend essen und dann den Flug buchen. Dann der Anruf. Kairos neue Besitzer kamen nicht klar mit ihm, es passte so gar nicht. Ob wir ihn nehmen würden, es würde sie beruhigen, wenn er irgendwo hinkäme, wo es ihm wirklich gut ginge. Ich war wie überfahren. Erst einen Tag zuvor hatte ich mich in Gedanken für immer von ihm verabschiedet, er war jetzt seit fast zwei Monaten bei diesen Leuten gewesen. Ich hatte mein Leben neu geordnet, war eine Person geworden, die ihre innere Stärke und Glück auch ohne ihn gefunden hatte und wollte aufbrechen, und die Welt erobern. Und jetzt das?! Sag – ja, signalisierte mir mein Mann still mit den Lippen, mir gegenüber am Esstisch sitzend und mich eindringlich mit dem Blick fixierend, ich völlig perplex das Telefon am Ohr. Und ich sagte einfach ja. Ja, wir würden das schaffen, irgendwie würde es gehen. Ich hatte ja auch kaum die Wahl, wer weiß, wo er ansonsten hingekommen wäre? Und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Bei Christa ist eine Box freigeworden… Es war unglaublich. Wenn das kein Zeichen war! Vonwegen böses Omen! Mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter. Und direkt nach dem Telefonat ging ich an den Computer und kaufte mir ein Ticket für zwei Monate Azoren.

IMG_0349_2verklEs gab dann noch unglaublich viel zu regeln, aber jetzt ist Kairo hier. Nebenan. Ich sehe ihn wieder rund um die Uhr von meinem Fenster aus. Auch er wirkt, als wäre eine Last von seinen Schultern gefallen. Da unten in Frankfurt ist er nicht gut gehalten worden, keine Weide, keine Freiheit. Kaum Kontakt. Mit Jack, Christas Wallach, hat er sich hingegen schon immer gut verstanden. Beide helfen sich gegenseitig, ihre Wunden über ihren jeweiligen Verlust zu heilen, das merkt man. Auch Jack, der ebenfalls ein unglaublich schreckhaftes, spritziges und sensibles, aber auch sehr freundliches und ehrliches Pferd ist und der seit über einem Jahr nicht mehr geritten wurde, reite ich inzwischen. Ich muss selbst ausmisten und viel mithelfen, doch dafür ist die Stallmiete sehr gering, er ist dort super untergebracht und ich habe einen neuen, für mich heilsamen Ort erobert. Jetzt bin ich wirklich ein Pferdemensch. Ich musste begreifen, dass mir das bloße Denken und Fordern dieses Wunsches nichts gebracht hat, es hat nicht genügt. Es ist wie bei allen Dingen, auch beim Gesund Werden. Es reicht nicht, etwas haben zu wollen. Wir müssen selbst die Person werden, in diese neue Rolle hineinwachsen, die genau das haben und erreichen kann. Vorher war ich einfach noch nicht so weit, ich hatte noch ein paar Lektionen zu lernen, musste auch selbst für mich wirklich begreifen, wie wichtig es mir ist, und kann jetzt zurückblickend nur staunen, welchen Weg ich geführt wurde. Und die Tatsache, dass ich es wirklich selbst tun und entscheiden konnte, befähigt mich erst dazu, diese Person zu sein, die genau das haben und verwalten kann, nämlich diesen gesunden Körper und dieses Pferd. Es ist, als wäre ich in einem neuen Bereich erwachsen geworden. Und so wie ich begreifen musste, dass es nicht nur Opfer bedeutet und Verzicht, meinen Lebensstil zu ändern um gesund zu werden, dass das nur der Anfang ist, so verstehe ich auch jetzt, dass das Leben nicht vorbei ist, wenn man plötzlich durch eine große Verantwortung für ein Lebewesen gebunden ist, und dass die Welt einem trotzdem noch offen steht, oder vielleicht dadurch, dass man in seinem Kopf frei geworden ist, jetzt erst recht.

Es gibt Kreuzungspunkte im Leben, die wir nicht übersehen dürfen, weil wir sonst immer in eingefahrenen Bahnen unseren Weg dahinziehen, ohne zu erkennen, welchen Weg Gott mit uns gehen möchte. ~ Friedrich Meisinger

Chronologisch folgen hierauf die Geschehnisse von: Warum muss es so weh tun?

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